alle
schafe
sind
schafe

20 jahre auf der suche:
kunst zwischen
trivialität und relevanz


hans wüllner, 2/23

Datei „Das Leben…“, ÜBER DIE KUNST 2-23 A4-Fassung
 

 
Und der Anfang dieser Geschichte geht so:

Sommer 2002.
Ich bin seit gut 2 Jahren arbeitsunfähig frühverrentet. Ich stehe ich in meiner Werkstatt und schnitze an einem alten  Pfeifenständer herum, den ich mal in einem Skandivavienurlaub geschnitzt habe. Ich stehe da mit Birgitt und wir reden darüber, daß ich gern mal bei meinen z. Zt. begrenzten Möglichkeiten wieder etwas Sinnvolles tun würde. Sie schlägt mir vor, doch mal eine Eule zu schnitzen. Ich überlege, daß die dann doch irgendwie nach Kunst aussehen muß. Aber was ist denn Kunst, und warum ist etwas Kunst?

Sommer 2023.
Ich habe 20 Jahre lang versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Holzfiguren zu schnitzen ist das, was ich die längste Zeit in meinem Leben getan habe. Weil ich in der mir zugänglichen einschlägigen Literatur keine am Ende wirklich schlüssigen Antworten auf diese Frage gefunden habe, habe ich als kunsttheoretischer und kunsthistorischer Laie selber einen Versuch gewagt. Allzu oft erscheint mir in der Fachdiskussion diese Frage nicht einer gründlichen Erwägung wert, weil ja scheinbar auf der Hand liegt, was Kunst ist? Ein Gang durch die großen Museuen genügt. Da sieht man, was Kunst ist. Wenn das nicht so wäre, würden diese Arbeiten ja nicht da hängen oder stehen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: In dem in den einschlägigen Feuilletons vielfach überschwänglich lobend besprochenen neu erschienen Buch von Julian Barnes, „Kunst sehen“, widmet er die Frage was denn Kunst sei bei 467 Seiten Text ganze 13 Seiten. Bei einem ungeheurem Detailreichtum bezüglich der vorgestellten Bilder fehlen den Text betreffend  gänzlich Quellen- und Literaturangaben. Er kommt dabei  über  die phrasenhafte Andeutung von subjektivierten Kriterien („Niveau“, „Originalität“, „interessant“, „gedankliche Tiefe“ S.422, hilflose Floskeln und Plattitüden, wie man sie auf jeder Ausstellungseröffnung hören kann), nicht hinaus.  Dieses  Buch zeigt etwas, was mir für die Kunstdebatte charakteristisch erscheint; es handelt sich um ein geschlossenes System von Begründungszirkeln, das sich selbst genügt. Ein Blick in die Arbeitsweise der Geistes- und Sozialwissenschaften wäre da sehr hilfreich gewesen.
Wenn nun jemand denkt, ich wolle in arroganter Geste „die“ Kunstkritik belehren und das Rad neu erfinden zu wollen, den muß ich leider enttäuschen. Weil ich für die Beantwortung der Alltagsfrage, was denn Kunst sei, mir nicht die Mühe machen wollte, ganze einschlägige Bibliotheken zu durchforsten, habe ich als unbedarfter Laie nach Plausibilitätskriterien gesucht, mithilfe derer ich eine Antwort auf diese Frage finden kann, die mich zufrieden stellt. Ausgangspunkt all dieser Überlegungen ist die Annahme, daß Kunst lediglich eine besondere Form der Kommunikation sei.
Wahrscheinlich weniger als die Hälfte der mehreren hundert Arbeiten, die ich über die Jahre  gemacht habe, würde ich der Kategorie “Kunst“  zurechnen. Die anderen etwa 50% entfallen auf die Kategorie „dekorative Ästhetik/kreative Selbstbeschäftigung“. Ich habe z.B. mehrere Sitzmöbel aus zum Teil gewaltigen Baumstämmen geschnitzt, die ich als ästhetisch gelungen und ansprechend, die ich aber keinesfalls als Kunstwerke betrachte. Um diesen Unterschied geht es mir.
Unter Navigationspunkt „Skulpturen II“ auf unserer homepage gruenlund.de finden sie vier Beispiele für künstlerisch gehaltvolle Arbeiten, unter Navigationspunkt “Skulpluren I“ zwei Beispiele für Sitzmöbel




Kunst und Künstler

Wer durch die öffentliche Diskussion über die Kunst verunsichert ist, wird  schnell aufgeklärt: „Kunst ist das, was ein Künstler macht“, hört man oft. Aha!  So weit, so gut. Einleuchtend! „Und was macht einen Künstler zu einem Künstler?“ Antwort: „Klar, ein Künstler ist deshalb ein Künstler, weil er Kunst macht!“. „Und was ist denn jetzt Kunst?“ Antwort: „Na klar, das, was  …“    Moment   -   hier stimmt irgendwas nicht. Hier hat die Feststellung, daß Kunst etwas sei, was ein Künstler gemacht hat  die gleiche Erklärungskraft wie die Feststellung, daß alle Schafe Schafe seien. Aber was sind denn Schafe ? Na, Schafe eben. Und was ist Kunst?  Na Kunst eben. Oder? Verstanden ? Irgendwo ist da der Wurm drin.So wie die Sprache das Denken verführt, kann sie einem einen ganz schönen Knoten ins Gehirn machen.

Joseph Beuys, ehemaliger Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie gab vor etwa 50 Jahren die vielbeachtete  Parole heraus: „Alles ist Kunst!“. Er hat damit einen Zeitgeist getroffen, der sich spätestens abzuzeichnen begann, nachdem der Russe Kasimir Malewitsch 1915 mit seiner Provokation des „schwarzen Quadrats“ an die Öffentlichkeit trat, womit er die festgelegten Regeln der akademischen Kunstmalerei in Frage stellte, was dieses schwarze Quadrat durch seine innovative Kraft nun seinerseits zu einem  Kunstwerk machte. Für unsere Zwecke sei nun mal dahingestellt, welche Intention von Joseph Beuys dahinter steckte. Sollte es als eine Wiederholung der Malewitsch-Provokation gedacht gewesen sein?  Missverständlich war diese Formulierung allemal, und sie wird seitdem gern zur Rechtfertigung benutzt, jeden Unsinn und jede Banalität zur Kunst erklären zu können. Elementare Verunsicherung in der Frage, was man denn nun für Kunst zu halten habe, ist die Folge. Nach den Gesetzen der Logik betrachtet ist die Aussage von Beuys eindeutig: Wenn alles Kunst ist, ist nichts Kunst.
 
Auch sprachwissenschaftlich gesehen verliert ein solcher Kunstbegriff wie der von Beuys seine Aussagekraft und wird zu einer klassischen Leerformel: Eine Aussage, die auf jede tatsächliche oder mögliche Situation zutreffend ist, ist eine Aussage, die wegen prinzipiell fehlenden Gehaltes keine Unterscheidungen ermöglicht und daher sinnlos ist. Wenn alles gelb ist, ist nichts mehr gelb. Wir können dann nicht mehr unterscheiden. Eine Regel ist nur aufgrund der Ausnahme erkennbar. Daher müssen wir eingrenzen, was immer  dann gemeint sein soll, wenn wir von Kunst reden.

Ein Stuhl ist etwas, was vier Beine (ich weiß) hat, und wo man sich draufsetzen kann. Ein Tisch ist kein Stuhl. Für solche Unterscheidungen haben wir die Sprache. Wenn ein Tisch auch ein Stuhl ist, wird Sprache sinnlos. Begriffe haben den Sinn, Dinge voneinander unterscheidbar zu machen. Wo aber der Kunstbegriff “bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst” wird, (Haselbach u. a., „Der Kulturinfarkt“) reden wir zwar immer noch miteinander, aber doch jeder nur noch über Seins. Was Kunst ist, verliert sich in einem unentwirrbaren Geflecht subjektiver Eindrücke.
 
Es gibt ein gesellschaftlich relativ fest gefügtes Bild davon, wie ein Künstler ist. Ich traf bei uns in dem Skupturengarten auf eine Frau die zu mir sagte, dass sie sich darüber wundere, dass ich scheinbar ganz normal sei: offen, humorvoll, keine Extravaganzen. Das  hätte sie bisher aber noch nicht erlebt. Künstler seien oft so düstere Menschen.

Die Menschen haben Künstler schon immer zu Recht für Spinner gehalten. Das bedeutet im Umkehrschluss aber  nicht, dass jeder Spinner ein Künstler ist. Ich kann mit der Bezeichnung als Künstler für mich unter anderem auch deshalb nicht so recht anfreunden, weil ich mich mit solchen wie oben genannten sich selbst bestätigenden Aussagen, die das Denken manipulieren sollen, nicht anfreunden kann. Hinter solchen Sätzen verbirgt sich entweder Naivität, Gedankenlosigkeit oder die Absicht, eine Verwirrung zu stiften, in deren Schatten man sich nicht hinterfragbare Freiräume schaffen kann; in denen man schlichtweg gegen jede Kritik immunisiert ist. Dazu kommt aber noch die vielfach exklusive Selbstpräsentation, die den Künstler als jemanden ausweisen soll, der außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung steht und daher anderen Beurteilungen unterliegt, als das bei den normalen Menschen der Fall ist.

Zu dieser Kategorie des Künstlers finde ich keinen Zugang. Sie hat für mich nichts Identitätsstiftendes. Sie hat für mich etwas unechtes, der trotz bei oft zwanghaft individualisierter Uniformität die personale Authentizität fehlt. Zu stark ist der Konformitätsdruck im  Zwang zur Besonderheit und Individualität. Von sich zu behaupten, man sei ein Künstler, reicht oft aus, um sich der bewundernden Blicke seiner Mitmenschen sicher zu sein. Ist es das, worum es geht? Künstler leben außerhalb der gesellschaftlichen Ordnungs- und Werteskala. Sie dürfen nicht nur, sie müssen auch immer ein bißchen verrückt sein. Ob Extravaganz (Markus Lüpertz) oder Joggingjacke (Jonathan Meese) ob durchgestylte oder etwas schlampige Erscheinung, ob introvertierte Schweigsamkeit oder schwärmerische Attitüde,  zu oft ist die deutliche Abgrenzung zum „Normalen“ das Ziel.

Der Alltag

Ich habe in den letzten etwa 20 Jahren meines Lebens neben Instandhaltungsarbeiten an Hans und Hof nichts anderes getan, als nach Maßgabe meiner körperlichen Möglichkeiten Holzfiguren  zu schnitzen. Ich war jeden Tag in meiner Werkstatt, in der auch die für den Innenbereich geeigneten Skulpturen ausgestellt sind. Holzfiguren schnitzen ist das, was ich die längste Zeit in meinem Leben getan habe.

In einer Welt, in der handwerkliches Können bei der Beurteilung der Kunst zunehmend an Bedeutung verliert, erhält die Persönlichkeit des Künstlers und seine Selbstinszenierung eine größere Bedeutung, schreibt die Kunstsoziologin Sara Thorton in ihrem Buch „Sieben Tage in der Kunstwelt“. Mir ist der ganze Kunstbetrieb zu aufgeblasen, zu wolkig, zu selbstgezogen und von einem zu großen Bedürfnis nach Befriedigung der Eitelkeiten der Künstler geprägt.
 
Dabei hat auch der künstlerische Alltag weniger mit Genialität, viel aber mit Disziplin zu tun. Ob Komponist, Schriftsteller oder Tänzer, ob Maler oder Bildhauer, immer hat die  seriöse Entwicklung eines Werkes etwas mit harter Arbeit zu tun. Wenn ein Schriftsteller sich 1 ½ Jahre täglich und pünktlich von 8 bis 12.30 Uhr an seinen Schreitisch setzt um einen Roman zu schreiben, hat das wenig mit der Vorstellung eines Boheme zu tun, der aus einer momentanen Intuition heraus sich dem Fluß seines genialen Geistes hingibt. Ich habe schon während meines sozialwissenschaftlichen Studiums stets Aussagen misstraut, die besten Ideen kämen einem immer in der Straßenbahn. Bei mir war das anders. Ich habe nächtelang Texte exzerpieren müssen.

In einer Dokumentation über Markus Lüpertz, dem ehemaligen Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie wurde gezeigt, wie er bei einen Bild, das ihm  noch nicht gefiel, einen großen Pinsel ergriff und in genialem Schwung Farbe das Bild klatschte. Bei einer Arbeit, mit der ich noch nicht zufrieden bin, mit einer Kettensäge quer durch die halbfertige Skulptur zu fahren, um mich dann zufrieden zurück zu lehnen würde mir nicht in den Sinn kommen. Das könnte allenfalls dann geschehen, wenn ich vor Wut und Enttäuschung über mein Unvermögen die misslungene Skulptur in den Ofen stecken will.  Aber ich bin ja auch kein berühmter Bildhauer und Kunstprofessor.

Auf der Suche

Nachdem ich die ersten bildhauerischen Erfolge hatte, habe ich auch angefangen, mich als Künstler zu verkleiden. Ich habe mir die Haare lang wachsen lassen und hinten zu einem Zopf zusammen gebunden, habe mir mehrere bunte Brillen mit kleinen runden Gläsern gekauft und an einem Lederriemen einen kleinen von einem Freund geschmiedeten Stierkopf vor der Brust getragen. Ganz so, wie man das machen muss, wenn man ein Künstler ist. Je besser meine Arbeiten im Laufe der Zeit vor allem durch eine Verbesserung meiner handwerklichen Fähigkeiten und gestalterischen Erfahrungen wurden, um so mehr wurde mir bewusst, dass meine Arbeiten nicht durch meine Clownsverkleidung wirken, sondern für sich sprechen sollen. Die sorgfältig mit Farbe über und über beschmierten Overalls, die Künstler bei Fernsehdokumentationen in ihren Ateliers tragen, sind Zeugnis jener vermeintlichen Genialität, die die banale Ordnung des Alltags verachtet.

Sensibilität, Kreativität und auch Unangepasstheit sind in einem gewissen Masse unabdingbare Voraussetzung für künstlerische Tätigkeit. Dabei geht es oft um Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensauffälligkeiten, die den Umgang mit ihnen für andere Menschen oft beschwerlich machen. Naturgemäß sammeln sich in Künstlerorganisationen diese personalen Auffälligkeiten oft auf eine unangenehme Art und Weise.  Engstirnige Borniertheit, kleinkarierte Konkurrenzängste und groteske Selbstüberschätzung kennzeichnen oft das Klima und die Atmosphäre in solchen Gruppen. Ich bin lieber allein, und ob ich ein Künstler bin, ist mir dann einigermaßen egal, wenn es Menschen gibt, die sich von meiner Arbeit angesprochen fühlen. Es ist besser, mit seinen Ansprüchen und seiner Attitüde „weniger zu versprechen, und dafür aber mehr zu halten, als umgekehrt. Das mindert die Erwartungshaltungen meiner Werkstattbesucher und mindert ebenfalls den Erwartungsdruck für mich. Und wenn meine Werkstattbesucher positiv überrascht sind, haben am Ende alle was davon.

Lehrjahre

Ich bin seit etwa 20 Jahren Holzbildhauer, ungelernt, aber mit Begeisterung. Ich habe weder eine einschlägige Ausbildung, noch habe ich irgendwelche Kurse besucht. Versuch und Irrtum war das Prinzip. Das dabei manches den Bach herunter geht, versteht sich von selbst. Aber so funktioniert Lernen.

Im Jahre 2001 habe ich meine ersten Schnitzversuche unternommen. Zwei Jahre später habe ich mir spezielles Schnitzwerkzeug gekauft und begonnen, regelmäßig Holzfiguren herzustellen. Weil ich mich seit Beginn meiner ersten bildhauerischen Versuche gefragt habe, was ich denn da eigentlich mache, wenn ich schnitze, habe ich Bücher gelesen, in Zeitschriften recherchiert und mit Menschen geredet um herauszufinden, was denn Kunst ist und wie der Kunstbetrieb funktioniert. Es ging mir hierbei nicht um kunst- oder kulturwisschenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse. Ich wollte die Alltagsfrage für mich beantworten, wo die Grenze zwischen Trivialität und der Einlösung weitergehender Ansprüche verläuft und wie diese beschaffen ist; ob das, was ich mache, weitergehenden Ansprüchen gerecht werden kann, wenn ja, welchen und warum. In dem sozialen Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es auf diese Frage keine Antwort. Statt wertvoller Drucke der Südseemädchen von Paul Gauguin hingen in dem Milieu wo ich die ersten 10 Jahre meines Arbeitslebens verbracht habe, eher Zeitschriftenbilder von halbnackten jungen Frauen an den Wänden.

Ein diesbezügliches Schlüsselerlebnis hatte ich, als ein Freund mich fragte: „Machst du was, was man verstehen kann, oder machst du mehr so ‚Kunst‘?“. Es scheint so zu sein, daß auf dem Kunstmarkt etwas inszeniert wird, was sich dem Alltagsverständnis vieler Menschen verschließt. Kritische Stimmen behaupten, daß auf dem Kunstmarkt ein „Sektenritual“ gepflegt  wird, von dem man „ohne erfolgreich abgeschlossene Gehirnwäsche ausgeschlossen bleibt“. Wem dieses Urteil zu hart ist und wer genaueres wissen will, findet bei den Künstlern und Kunsthistorikern Christian Sahrend und Steen T. Kittl („Das kann ich auch, Gebrauchsanweisung für moderne  Kunst“) in unterhaltsamer  Form eine Fülle von Fakten und Schlussfolgerungen. Völlig absurd und nur noch als Immunisierungsstrategie zu verstehen wird das Ganze bei einer Betrachtungsweise wie in der sogenannten Konzeptkunst, in der „Kunst nur dann ‚gute Kunst‘ ist, je weniger sie gesellschaftlich verstanden und anerkannt wird“ (Raimund Unger, „Die Heldenreise des Künstlers“)

Ich hatte nach vielen Jahren eigener bildhauerischer Tätigkeit die Gelegenheit, ein längeres Gespräch mit einer seit langem bundesweit beachteten Künstlerin zu führen. Eine kluge und reflektierte Frau, Beuys-Schülerin und Meisterschülerin von Gerhard Richter, die zeitweilig auch als Professorin tätig gewesen ist. Dennoch fühlte ich mich durch dieses Gespräch in meinem Eindruck bestätigt, daß in dem Treibhausklima der Kunst-Welt Beurteilungen über die Ansprüche, die an Kunst zu stellen sind gedeihen, die mit dem, was ich in meiner gesellschaftlichen Wirklichkeit erlebe, nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Denselben Eindruck hatte ich nach einem  Briefwechsel mit einem Vertreter des Vorstandes des Berufsverbandes Bildender Künstler in Berlin.
 Ohne die meinungsprägende Mitgliedschaft in einer Künstlervereinigung, ohne externe Ausstellungs- und ohne Wettbewerbsbeteiligungen bin ich neben eigenen Ausstellungsbesuchen und Literaturstudien in meinen Reflexionen geprägt durch die Betrachtungsweisen der vielen hundert Besucher die jährlich meine Werkstatt besuchen. Unter ihnen sind auch viele Menschen, denen die Ästhetik der bürgerlichen Hochkultur fremd ist. Sich nur von denen bestätigen zu lassen, mit denen man sich eh unter derselben Meinungsglocke befindet, mag zwar die Seele wärmen, führt aber evtl. zu einem erheblichen Defizit in der Wirklichkeitserfassung.

Kunst und kreative Selbstbeschäftigung

Jenseits von Interessenlagen, in denen es um Finanzspekulation und Sozialprestige geht gilt, daß  es Gegenstand jeder Kunst ist, Geschichten zu erzählen (Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Tanz, Film, Oper, Theater etc.). Viele meiner Skulpturen, die mir besonders am Herzen liegen erzählen Geschichten von einer Lebensweise, die nur ein Ziel kennt: weiter, schneller, höher und größer, bzw. von Versuchen, in dieser Welt die Orientierung nicht zu verlieren.  Meine Skulpturen erzählen oft  Geschichten von unterlassenen und verdrängten Träumen, von falschen Hoffnungen und falschen Gewissheiten.  Sie handeln von einem gehetzten Alltag, von dem der wir oft glauben, dass so das Leben sei.
 
Das zentrale (bild-)sprachliche Ausdrucksmittel der bildenden Kunst ist, durch  Verfremden, Hervorheben und Weglassen Irritationen bei dem Betrachter herbeizuführen, um somit dessen Wahrnehmung auf einen bestimmten Gegenstand oder eine Sichtweise zu lenken. Hervorheben, Weglassen und Verfremden hat zwangsläufig und auch gewollt ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit und Vagheit der Aussagen zur Folge. Von der notwendigen Vagheit und Mehrdeutigkeit der Aussagen bis zur gezielten Vernebelung der Absichten, der Verwirrung des Betrachters bis hin zur einer hohlen Geste des Künstlerischen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Oft wird schon die Bedingung der Möglichkeit von Kunst, etwa die Anwendung  handwerklicher Techniken wie “das Verteilen von Farbe auf einer Leinwand”, so die sarkastische Bemerkung einer Kollegin, zur Kunst erklärt. Nicht selten verhalten sich Anspruch und Präsentationsrahmen der Werke umgekehrt proportional zu ihrem künstlerischen Gehalt, etwa wenn drei Kerben in einem Stück Holz, gut angeschliffen und poliert, auf einen Sockel gestellt und gut beleuchtet als „Metamorphose“ präsentiert werden

Bei der gesprochenen Sprache ist uns allen bekannt, dass geredet werden kann, ohne wirklich etwas zu sagen. Ebenso wie in der gesprochenen Sprache sind in der Bildsprache der bildenden Kunst Wort- bzw. Bildhülsen und Leerformeln nicht immer sofort zu erkennen,  aber oft durchaus imponierend. Hinter ebenso verschwurgelten wie vielsagend-nichts-sagenden Formulierungen steht oft die Absicht, die Stümperei zur Tugend zu erklären. Solche mit bildsprachlichen Leerformeln angefüllten Werke können unter dem Gesichtspunkt von  kreativer Selbstbeschäftigung  und unter dem Aspekt von dekorativer Ästhetik, von Illustration und Design, die oft im Gewand der Kunst daherkommen,  durchaus ihren nicht zu unterschätzenden Wert haben. Nur: mit Kunst, die davon zu unterscheiden ist, haben solche Arbeiten wenig zu tun. Es geht bei diesen Unterscheidungen um voneinander abzugrenzende Zielsetzungen.

Im Gegensatz zu kreativer Selbstbeschäftigung und zu dekorativer Ästhetik, zu Illustration und Design geht es  bei der Kunst darum, nicht ohne weiteres sichtbare Aspekte eines Themas aus einer emotional bedeutsamen und kognitiv erhellenden Perspektive zu betrachten und ggf. zugänglich zu machen. Um mit Paul Klee zu sprechen: „Kunst gibt nicht Sichtbares wieder, Kunst macht sichtbar“.

Mit den Bauhaus-Ideen von Walter Gropius und Anderen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde angesichts der zunehmenden Serifizierung von industriellen Produkten neben anderen Aspekten der Wert handwerklich-ästhetischer Fertigung wieder in das öffentliche Bewusstseins gerückt. Es ging neben anderen Fragen hierbei aber nicht um eine Verschmelzung, sondern um ein Zusammenführen von Kunst und Handwerk mit dem Ziel ästhetischer Funktionalität in einer ganzheitlichen Lebenswelt.  

Es stellt sich die Frage, um welche Art von Bedeutungsübertragungen es geht, wenn wir von Inspiration, von künstlerischem Ausdruck reden? Es handelt sich hierbei nicht um geheimnisumwitterte sphärische Eingebungen. Inspirationen wurzeln in alltäglichen Vorgängen, die allen Menschen geläufig sind: Wir sehen und erleben in unserem näheren oder weiteren Lebensumfeld Ereignisse, uns drängen sich Schlussfolgerungen auf, wir verarbeiten Erfahrungen, es gibt Sachverhalte, die uns staunen lassen etc.. Einige dieser Beobachtungen bleiben uns präsent, andere verschwinden sofort in den Tiefen unseres Bewusstseins, ohne aber deshalb weniger wirksam zu sein. Wer gern malt, schnitzt, musiziert etc. versucht dann ggf., diese Beobachtungen und deren Interpretation mit den Mitteln seines Hand*werks in Szene zu setzen, und damit auch – wenn es gut geht – für sich zu verarbeiten.

Wenn  Casper David Friederich als Maler der Romantik  die Kreidefelsen von Rügen malt, handelt es sich hier um eine Reminiszenz an den Zeitgeist; an die Erfahrungen oder Empfindungen die  den gewaltigen Verwerfungen jener Zeit entsprachen. Die französische Revolution hatte das französische Königshaus weggefegt, in Preußen wurde die Trennung von Kirche und Staat vollzogen, die ganze gesellschaftliche Ordnung wurde durch Abschaffung der Leibeigenschaft, die Einführung industrieller Arbeitsformen, der Zeittaktung des Lebens und vieles mehr auf den Kopf gestellt. In dieser Situation, in der den Menschen sozusagen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wuchs die romantische Sehnsucht nach einem  Leben, das endlich wieder so sein sollte, wie es nie war: die heile Welt der Schöpfung in all ihrer wärmenden Aufgehobenheit. Möglicherweise hat diese zeitgeistliche Empfindung auch zu den Depressionen beigetragen, an denen Caspar David Friederich später erkrankte.
In so weit ist das Bild in seiner handwerklichen Qualität ein ausgezeichneter Repräsentant der dahinter liegenden Geschichte. Ein Bild,  dem eine bewußt oder unbewußte tiefer liegende Empfindung zugrunde liegt, als die vordergründige Motivation dafür, eine Küstenlandschaft zu malen.

Anpassung und Autonomie

Bei einer guten künstlerischen Arbeit geht es also auch immer um die eigene Verarbeitung von Gemütszuständen. In soweit hat der künstlerische Prozeß auch immer etwas mit Selbstfindung zu tun. Es geht auch immer darum, mit dem Ziel gelingender Kommunikation mich auf mögliche Rezeptionsgewohnheiten der Rezepienten einzulassen, aber auch mir selbst gegenüber wahrhaftig zu bleiben.
Eines Tages kam jemand zu mir in die Werkstatt und fragte mich um eine Skulptur auf einem Sockel ähnlich der Skulptur des „Denkers“ von Auguste Rodin. Die solle vor seinem Haus stehen. Wir waren schnell Handelseinig und ich versprach, mich wieder zu melden. Zwei Tage später habe ich ihm einen Brief geschrieben und ausführlich begründet, warum ich auf diesen Auftrag verzichten müsse. Die Vorlagenskulptur von Rodin, der die gewünschte Skulptur in etwa entsprechen solle, repräsentiert in seiner muskelbepackten Statur eher einem posenden Bodybuilder oder einen Preisboxer, der sich in seiner Körperverliebtheit gefällt, als einem stillen, nachdenklichen Mannes in intellektueller Zurückhaltung. Tatsächlich hatte Rodin für diese Skulptur auch ein Preisboxer Modell gesessen. Wenn richtig ist, daß die Skulptur nur das Trägermaterial dessen ist, „was uns der Künstler damit sagen will“, dann ist diese Skulptur in ihrer Widersprüchlichkeit gründlich mißlungen. Ich konnte aus dieser Vorlage keinerlei Empfindungen für mich destillieren, die mich in die Lage versetzt hätte, eine stimmige Skulptur zu machen.
Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß eine Skulptur in ihrem Ausdruck und ihrer Körpersprache mir nur dann gelingen kann, wenn  sie meine Gefühlslage bezüglich des Gegenstandes mehr oder weniger gut widerspiegelt. Dabei ist für mich ein Faktor ganz entscheidend. Es gilt, die eigenen Grenzen der eigenen Reflexionsfähigkeit zu beachten. Insofern richtet sich eine künstlerische Arbeit auch immer (und vielleicht in erster Linie) als Prozeß von Aspekten der Selbstfindung an den Künstler selbst. Weil es auch immer darum geht,   finden sich unter den „großen“ Künstlern meinem Eindruck nach überproportional viele Menschen, die in ihrem sozialen Anpassungsverhalten besondere Auffälligkeiten aufweisen mit der Folge einer besonders hohen Sensibiltät und Kreativität. Störungen in  der Persönlichkeitsentwicklung haben auf diesem Wege ein besonderes Übungsfeld. Nur wenn mit der betreffenden Arbeit  dieser Prozeß gelungen ist, kann diese Arbeit auch von dem Betrachter als stimmig empfunden werden. Es geht also immer auch um beides: um Verständlichkeit und Wahrhaftigkeit, um Anpassung und Autonomie.

Soziale Codierungen

Kunst erschöpft sich nicht in den Ausdrucksformen der bürgerlichen Hochkultur. Für den aus dem nordfranzösischen Arbeitermilieu stammenden Soziologen Didier Eribon hatte in dem Lebensbereich seiner Herkunft “die” Kunst keine Bedeutung. Interesse an Kunst sei eine Frage der Bildung. „Ich mußte es erst lernen. Das war ein Teil einer nahezu vollständigen Umerziehung um in eine andere Welt eintreten zu können“ (Didier Eribon, „Rückkehr nach Reims“). Das Interesse an Kunst habe in dieser Welt jedoch “stets, ob bewußt oder unbewußt auch damit zu tun, daß man das Selbst aufwertet, indem man sich von denen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben”. Hieraus resultiere  ein  Überlegenheitsgefühl, das aus einem “ewigen diskreten Lächeln ebenso spricht wie aus ihrer Körperhaltung,  dem kennerhaften Jargon wie aus dem ostentativen Wohlgefühl“, von dem die Selbstpräsentation geprägt ist.
Damit Kunst zugänglich werden kann, scheint es notwendig zu sein, etwas Übung in der Entschlüsselung von Metaphern und Bedeutungsübertragungen zu haben, die in den jeweiligen sozialen Milieus und dem jeweiligen Kulturkreis in der bildenden Kunst verwendet werden.  In jeder Erfahrungswelt werden die Geschichten eben dieser Erfahrungswelt erzählt. Das, was Eribon die „vollständige Umerziehung“ nennt, ist in erster Linie nicht einer besonderen Eigenart der Kunst geschuldet, sondern seinem Eintritt in eine andere Lebenswelt mit anderen Regeln, Selbstverständlichkeiten, anderen Geschichten, anderen kulturellen Ausdrucksformen und anderen Metaphern, Chiffren und sozialen Codierungen.

Der berühmte Soziologe Pierre Bourdieu, der selbst auf einer kleinen Bauernstelle im ländlichen Frankreich aufgewachsen ist, hat in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ darauf hingewiesen, daß die Menschen aus den unterschiedlichen sozialen Milieus jeweils einen stabilen Habitus des Verhaltens entwickeln (Lebensstil, Akzent und Sprache, Bildungsinteressen, soziale und geografische Mobilität etc.), dessen Bedeutungshintergrund und dessen kultureller Wert immer mitschwingt, der aber  in anderen Milieus oft nicht erkannt und verstanden werden kann. In so weit ist in dem Versuch, die Ausdrucksformen der Kunst in der bürgerlichen Hochkultur zur einzig möglichen, zur „wahren“ Kunst zu erklären, auch der Versuch von gesellschaftlichen Eliten enthalten, die kulturellen Ausdrucksformen des eigenen Milieus zur einzig gültigen gesellschaftlichen Norm zu erklären. Während die einen stark an der ästhetischen Form (Bildaufbau, Farbgebung, historische Bezüge, innovative Aspekte etc.) orientiert sind, geht es bei den anderen eher um den lebensweltlichen Bedeutungsgehalt eines Werkes. Besonders auffällig werden diese Unterschiede, wenn man z.B. die Oper „Aida“ von Guiseppe Verdi, eine Liebesgeschichte aus einem Herrscherhaus des antiken Ägypten (auf italienisch), mit der von Situationskomik geprägten  Fernsehserie „Neues aus Büttenwarder“ (mit norddeutschem Akzent) vergleicht, die in einem fiktiven Schleswig-Holsteinischen Dorf spielt.
 
Aus einer Ausstellung in Mönchen-Gladbach verschwanden im Jahre 1973 zwei „Kunstwerke“ von Joseph Beuys. Wie sich später herausstellte, hatte eine Putzfrau in der Annahme, es handele sich um Müll, diese „Kunstwerke“ entsorgt. Es ist offensichtlich doch wohl so, daß es nicht für alle Menschen in gleicher Weise selbstverständlich ist, was als Kunst zu gelten hat, und was nicht. Unter der Formulierung „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ hat diese Begebenheit dann später Eingang in die Kunstgeschichte gefunden.

Der Körper lügt nicht

Sofern es in der bildenden Kunst um menschliches Verhalten geht, worin ich den Schwerpunkt meiner mir wichtigen Arbeiten sehe, kommt der Körpersprache eine herausragende Funktion hinsichtlich von Bedeutungsübertragungen zu. Gefühle finden im Körper statt, und der Körper drückt die Gefühle auch aus. Jeder kennt die Körperhaltung eines Menschen, der sich bedrückt fühlt. Jeder Fußballkommentator macht sich die Erkenntnisse, die aus der Mimik und der Körperhaltung von einzelnen Spielern oder einer Mannschaft sprechen, zu Nutze.   In der Mimik, in jeder Geste, in jeder Körperhaltung kommt das zum Ausdruck, was unsere gegenwärtige mentale und emotionale Verfassung ausmacht. Unsere Körpersprache ist ein unwillkürliches Ausdrucksmittel, auf dessen Kernbereich wir Menschen im Regelfall so gut wie keinen steuernden Einfluss haben; hier sind sich die Sozialwissenschaftler ausnahmsweise einmal einig. Mir ein bißchen Übung können wir darüber hinaus sehr gut die gespielte Pose einer authentischen Körperäußerung unterscheiden. Die Sprache des Körpers verstehen wir  intuitiv, über die meisten sozialen und kulturellen Grenzen hinweg. (Beispiele hierzu auf der homepage www.gruenlund.de unter dem Navigationspunkt Skuplturen II)

Wer in der bildenden Kunst etwas über die Befindlichkeit eines Menschen in einer bestimmten Situation erzählen will, kann sich der bildnerischen Umsetzung dadurch nähern, dass er in seinem eigenen Körper versucht, diese Befindlichkeiten nachzufühlen und  dann auch sehen zu können, wie der eigene Körper diese Befindlichkeiten sichtbar macht. Ich habe gute Erfahrungen damit gesammelt mit geschlossenen Augen auszuprobieren, ob sich eine bestimmte Körperhaltung, ein bestimmtes Körpergefühl sich stimmig zu der angestrebten Aussage der geplanten Skulptur verhält. Wenn diese Körperhaltung aus verschiedenen Positionen abfotografiert ist, habe ich eine Vorlage für die geplante Skulptur.

Mit der Sprache des Körpers werden dem aufmerksamen Beobachter Botschaften übermittelt, die gelegentlich weit über das gesprochene Wort hinausgehen oder gar im Gegensatz zu dem gesprochenen Wort stehen können. Eine gut gemachte Skulptur, die mit diesem Mittel arbeitet, wird für alle diejenigen spontan verständlich, für die der Gegenstand der Erzählung in irgendeiner Weise von Belang ist.

Damit, und das ist das Entscheidende, wendet sich Kunst, die mit diesem Mittel arbeitet, an einen Teil unseres Wahrnehmungssystems, der nicht oder nur bedingt  der Kontrolle unserer  rationalen  Beurteilung unterliegt. Sie erreicht damit Schichten unserer Selbst- und Weltwahrnehmung, über die wir selbst oft nur sehr wenig aktives Wissen haben, die aber dennoch für unser Handeln oft hochwirksam sind.

Die Reduktion der Komplexität eines Sachverhaltes in Form einer Geschichte hat darüber hinaus gegenüber der reinen Faktenpräsentation den Vorteil, daß hier die Darstellung eines Sachverhalts emotionalisiert wird. “Und je diffuser und komplizierter unsere Welt wird, um so nötiger ist die unmittelbar verständliche Geschichte. Denn wir denken, wir leben, wir lieben und wir träumen in Geschichten. Sie sind das Medium unserer geistigen Existenz, die Ordnungsform unserer Wirklichkeit”, so der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Poerksen.
Wenn jemand in unseren Garten oder in meine Werkstatt kommt, eine Skulptur betrachtet und es rutscht ihm oder ihr - evtl. auch nur in Gedanken - ein “aha”, oder ein “mmh” oder ein “wie?” heraus; wenn eigene Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen aktualisiert werden, wenn derjenige sich veranlasst fühlt, ein weiteres mal hinzugucken, wenn sozusagen die Seele in Schwingungen versetzt wird,  dann hat evtl. Kunst  stattgefunden. Kunst ist das, was am Ende herauskommt: ein virtueller Vorgang der Initiierung von Kommunikation, von Sinngebung als Übereinkunft zwischen Hersteller und Betrachter. Sinn existiert nur virtuell, in den Köpfen, in den Herzen, als Prozess, als Übereinkunft, Verständigung, Kommunikation. So wie in der Literatur nicht das Buch, das bedruckte Papier das Kunstwerk ist, so ist in der Bildhauerei nicht die handwerklich erarbeitete Skulptur, das Hand*werk das, was das Eigentliche ist, sondern es ist der durch dieses initiierte Prozess; der Vorgang des Austausches über eine erzählte Geschichte. die sozusagen hinter der vorgetragenen Geschichte liegt. Die vorgetragene Geschichte ist sozusagen nur das Trägermaterial für etwas, was sich dem Betrachter unmittelbar erschließen kann, ohne daß es explizit benannt wird.

Eine Frau  kommt in meine Werkstatt, sieht die Skulptur „das Gerücht“ und es entfährt ihr ein spontanes und lautes „Ha!!!, das kenn ich!“. Was ist da passiert ? Kunst ist offenbar in der Lage, handlungsrelevante Schichten unseres Alltagsbewusstseins spontan zu erreichen, die mit rationalen Mitteln oft nicht spontan verfügbar sind. Kunst wirkt, selbst wenn sie mit rein geistigen Mitteln wie etwa in der Literatur operiert, nicht mit rationalen Mitteln, sondern mit dem Aufspüren von verdeckten Erfahrungsebenen. Die Existenz unseres sozialen Bewusstseins unterliegt emotionalen Gesetzen, auch wenn unsere Vorstellung vom aufgeklärten modernen Menschen uns etwas anderes zu versprechen scheint. Unsere Handlungsmotive und Lebensbeurteilungen entwickeln sich, wie wir alle wissen, nicht im kristallklaren Himmel logischer Gründe. “Der reine Verstand wird nie den Thron des irdischen Königreiches besteigen”, schreibt der berühmte polnische Philosoph Leszek Kolakowski.

Wir werden immer Menschen bleiben, die von nicht rationalen Reflexen wie Vorurteilen, Egoismen, von geheimen Wünschen, von Ressentiments und von niederträchtigen wie auch von  liebevollen, uneigennützigen  und auch von großherzigen Motiven gelenkt sind; und das in weitaus stärkerem Maße als durch unsere Rationalität. Dadurch, dass Kunst an unseren verdeckten Erfahrungsebenen andocken kann, ist sie sowohl für unser persönliches wie unser gesellschaftliches Verhalten  in hohem Maße handlungsrelevant: allerdings nicht im Sinne eines handlungsentwerfenden  Verfahrens, sondern im Sinne einer  Anregung für die Wiederauffindung von verschütteten Emotionen und Bewusstseinslagen.

Und dennoch

Bei aller kritischen Betrachtung der Kunstwelt und bei aller Unsicherheit in der Beurteilung dessen, was Kunst ist, sein oder leisten kann, schreibt die Kunstsoziologin Sarah Thornton in ihrem Buch „Sieben Tage in der Kunstwelt“, daß die Welt, in der wir leben, um einiges ärmer wäre, wenn es diese Kunstwelt nicht gäbe. Diese Welt, in der man sich auf so vergnügliche Weise paradox verhalten kann, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Spiel, lokaler Gültigkeit und Internationalität, zwischen Kultur und Ökonomie verwischen. Diese Welt wäre um einiges ärmer, wenn es diesen von oft grotesker Selbstüberschätzung geprägten Haufen egozentrischer Selbst- und Künstlerdarsteller, diese schrägen Vögel, diese oft überqualifizierten, anachronistischen Typen und sensiblen Beobachter nicht gäbe, die uns gelegentlich zeigen, dass das Leben auch ganz anders ist.

Und wenn das Gerede verstummt ist und alle nach Hause gehen; wenn wir das alles gar nicht mehr so ernst nehmen müssen, ist es einfach wunderbar, die Ergebnisse künstlerischer Arbeit oder auch "nur" kreativer Selbstbeschäftigung zu genießen.

Über mich

Bevor ich zu einem relativ späten Lebenszeitpunkt angefangen habe, Holzfiguren zu schnitzen, habe ich über fast 40 Jahre hinweg in sehr unterschiedlichen Bereichen (vom Handwerk über Dienstleistungen und dem universitären Bereich bis hin zu Erwachsenenbildung, Sozialmanagment und nun auch im Bereich der Gastronomie und Kunst) Lebenserfahrungen sammeln können. Das Wichtigste dabei war die Erfahrung, dass das Leben  ganz anders ist.

Nach einigen gesundheitlichen Turbulenzen steht nun fest, daß ich im Sommer 2020 meine letzte Skulptur gemacht habe. Merkwürdigerweise die Skulpturen eines Mannes in entspannter Haltung mit den Händen in den Hosentaschen. Über dem linken Handgelenk liegt bei dem einen ein Speer, und bei dem anderen ein Buch. Beide haben offensichtlich keine Funktion und Bedeutung mehr.  Titel: „Kampf vorbei”. Ich bin 74 Jahre alt. Es war eine gute Zeit.